
Jeden Morgen spiegelt sich das Sonnenlicht im Wasser wider und läutet einen neuen Tag ein.
Langsam erwacht die Stadt aus einer ruhigen, friedvollen Nacht und nimmt voller Freude das Leben in Angriff. Auf meinem Weg beobachte ich Kinder, welche lachend am Wasser spielen. Junge Menschen auf ihrem Weg zu Verpflichtungen. Ältere Damen und Herren, welche gemeinsam ihren Morgenspaziergang genießen. Ich komme an etlichen Wasserspielen, Parks und glücklichen Gesichtern vorbei. Das Leben hat eine wundervolle Wendung genommen und endlich sind die alltäglichen Geräusche zurück. Vogelgezwitscher, Wasserrauschen, leises Autosummen.
Frischer Wind bringt meine Haare durcheinander, doch wen kümmert das. Leichten Schrittes bahne ich mir meinen Weg durch die Stadt, bis ich mein Ziel erreicht habe.
Ich sperre die Tür auf, trete ein und sauge die Atmosphäre auf. Bücher. Mit einem Lächeln mache ich mich an die Arbeit und schütze diesen wertvollen Schatz. Trotz der aktuellen Technik kommen jeden Tag hunderte von Menschen herein, durchstöbern die Regale, setzen sich für eine Weile oder leihen sich ein Buch aus. Kaum ein Mensch gleicht dem anderen. Natürlich sind unter den hunderten Menschen immer welche dabei, die sich ähneln. Jedoch fällt mir das kaum auf, wenn ich über den ganzen Tag hinweg so viele Menschen sehe.
Moment.
Es kommen zwei Personen durch die Vordertür, welche sich sehr ähnlich sehen. Männliche Personen, mittleren Alters, braune Haare in denen sich langsam das Grau durchsetzt. Beide haben ein Muttermal an der linken Braue. Stirnrunzelnd neige ich meinen Kopf um die Artikelnummer einer Bücherreihe ausfindig zu machen. Und schon steht Doppelgänger Nummer 1 vor mir. Er sucht ein Buch über die Zeit Picassos. Ich schaue im System nach, muss ihn aber vertrösten, da es momentan verliehen ist. Dankend dreht er sich um und geht. Keine Minute später steht Doppelgänger Nummer 2 vor mir. Er händigt mir ein Buch mit den Worten “Bin fertig damit.” Ich tippe die Artikelnummer ab. 0157543-PZ
Titel: ´Die Zeit des Picassos´, Ausgeliehen von Mark Schneider.
Ich beende den Prozess und verabschiede Mark Schneider. Merkwürdig. Bücher über die Kunstgeschichte sind nicht allzu beliebt. Eigentlich sind zwar Bücher allgemein nicht so beliebt, aber wenn die Leute her kommen, dann weniger weil sie lernen wollen. Kopfschüttelnd lege ich das Buch auf den Rollwagen neben mir, der bereits überquillt. Heute wurden viele Bücher abgegeben und wahrscheinlich, dauert es wieder viel zu lang, bis alle an ihrem Platz stehen. Seufzend stehe ich auf und steige jede einzelne Stufe in den obersten Stock hinauf. Ich brauche einen Kaffee und den gibt es nur dort.
Von oben hat man einen wundervollen Ausblick über den offenen Platz, den die Bibliothek umgibt.
Eine gläserne Pyramide, in der die kostbarsten Papiere aufbewahrt werden, welche wir noch besitzen. Nach allem was passiert ist, bin ich überglücklich, dass ein Teil der Bücher gerettet werden konnte. Nur dürfen weder die Menschen noch die Natur noch einmal so zerstörerisch sein.
Das Wasser kam wie eine Sturzflut über uns und während sich die Bevölkerung versuchte in Sicherheit zu bringen, fingen die Herrschenden an die Waffen zu entsichern. So stand unsere Stadt unter Wasser und brannte nieder. Aber wir haben es geschafft. Die Stadt lebt und gedeiht wieder.
Uns geht es gut.
Mit meinem Kaffee mache ich mich wieder an die Arbeit. Noch zehn Minuten, dann ist Feierabend für heute. Und da. Schon wieder Doppelgänger Nummer 1. Er fragt wieder nach dem Buch. Er war grad in der Nähe und dachte er versuche es noch einmal. Ein merkwürdiges Gefühl breitet sich in meinem Bauch aus, aber ich händige ihm das Buch aus und trage seinen Namen ins System ein.
Mark Schneider. Bevor ich etwas sagen kann, ist er schon verschwunden. Wie erstarrt starre ich auf die Tür und erwarte, dass er wieder zurück kommt.
Mark Schneider hat das Buch heute erst zurück gegeben. Warum sollte jemand anderes mit dem selben Namen genau nach diesem Buch fragen?
Ich bitte alle das Gebäude zu verlassen. Sperre ab und dreh meine Runde um zu sehen, ob ich jemanden mit mir hier eingeschlossen habe. Im letzten Abschnitt entdecke ich jemanden.
“Entschuldigen Sie, Sie müssten mich nach draußen begleiten. Die Bibliothek hat geschlossen”, jedes Mal fällt es mir schwer jemanden raus zu schicken, aber irgendwann will ich auch nach Hause.
“Oh, das habe ich nicht mitbekommen. ´Tschuldigung. Ich suche nur nach dem Buch über Picasso.” Doppelgänger Nummer 2.
“Mark Schneider?”, meine Stimme zittert etwas.
“Ja? Kennen wir uns?”, seine Augen scannen einmal meinen gesamten Körper ab.
“N-Nicht wirklich”, lache ich nervös, “Warum suchen Sie nach dem Buch?”
Seine Mine wird ernst: “Ich glaube, dass. Hmm. Schwer zu sagen. Ich glaube ich kenne Picasso, aber. Naja, der ist doch schon längst tot?”
Stirnrunzelnd blicke ich ihn an. “Wieso glauben Sie das?” Der ist doch verrückt, glaubt der wirklich Picasso zu kennen.
“Glauben Sie an Zufälle? Ich nämlich nicht. Ich bin diesem Mann seit vier Tagen jeden Tag über den Weg gelaufen und jedes Mal trägt er ein Bild mit sich. Einen Picasso. Aber meines Wissens sind so gut wie alle zerstört. Und wer sollte einen Picasso mit sich rum tragen in dieser Zeit, wenn nicht Picasso selbst?”
Ich nicke langsam. Er hat recht. Es gibt kaum noch Gemälde von Picasso und die übrig gebliebenen sind sicher verstaut.
“Das tut jetzt aber nichts zur Sache”, fährt er fort , „Ich gehe dann jetzt.“
Nachdem ich alleine bin und meine Arbeit getan ist, steige ich wieder hoch.
Mark Schneider hat schon recht. Irgendetwas stimmt nicht. Aber die Stadt sieht aus wie immer. Draußen ist es schon dunkel, aber auf den Straßen leuchten die Laternen und in einzelnen Fenstern brennen Lichter. Noch sind nicht alle daheim angekommen und bis alle schlafen gegangen sind, wird es auch noch eine Weile dauern. Gerade als ich mich abwenden will, sehe ich es.
Das Wasser. Es kommt.
Und dieses Mal wird es uns zerstören.